Pressemitteilung 2025-05-14

Die Täter von München sahen keine TV-Bilder

Das Projekt zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Olympia-Anschlags widerlegt mit Quellen einen populären Mythos. Anders als lange angenommen, konnten die Terroristen im Olympischen Dorf nicht mitverfolgen, wie sich Polizisten auf den Dächern in Stellung brachten.  
 

Männer in Trainingsanzügen, schwer bewaffnet, klettern auf den Dächern des Olympischen Dorfes herum – im Visier das Apartment in der Connollystraße 31, wo palästinensische Terroristen israelische Sportler als Geiseln halten. Die Szenen gehören zu den bekanntesten Bild-Dokumenten des Olympia-Anschlags vom 5. September 1972. Das Fernsehen übertrug die Bilder in alle Welt. Zuletzt thematisierte der oscarnominierte Kinofilm „September 5“, der auch den Deutschen Filmpreis gewann, beeindruckend die Rolle der ABC-Journalisten, die damals live berichteten und den Terroristen damit zu weltweiter Aufmerksamkeit verhalfen. 

Der Film deutet dabei auch an, was seit Jahrzehnten zu den populären Erzählungen über den Anschlag gehört: Angeblich sahen die Terroristen im TV, was alle Fernsehzuschauer sehen konnten. Angeblich schauten die Täter live zu, wie die Polizisten sie ins Visier nahmen. Zu diesem Mythos gehört auch, dass die Polizei, als ihr das klar wurde, die Beamten abzog und den Befreiungsversuch abbrach.  

Das Forschungsprojekt „Wissenschaftliche Aufarbeitung des Olympia-Anschlags 1972”, dem eine ehrenamtlich arbeitende internationale Historikerkommission und hauptamtlich Forschende des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) angehören, kann nun zeigen: In dem Apartment in der Connollystraße 31 gab es gar keinen Fernseher. Das belegen mehrere Quellen, die die IfZ-Historiker Adrian Hänni, Dominik Aufleger und Lutz Kreller ausgewertet haben. Link zum Forschungsbericht Hänni/Aufleger/Kreller

Zwar gab es Fernsehgeräte im Olympischen Dorf. Allerdings standen sie vor allem in den Gemeinschaftsräumen und gehörten nicht zur Standardausrüstung in den Schlaf- und Wohnräumen der Männer. Die Grundrisse des Architekturbüros, das das Olympische Dorf entworfen hatte, zeigen, dass in der Connollystraße 31 keine Fernsehanschlüsse vorgesehen waren. Noch deutlicher sind Polizeiquellen: Die zahlreichen Fotos vom Tatort, die die Spurensicherung damals machte, zeigen kein TV- oder Radiogerät. Darüber hinaus gibt es einen 25 Seiten langen Bericht der Polizei, die „Tatortbefundsaufnahme“. Dort sind alle Gegenstände im Apartment akribisch aufgelistet. Die Liste reicht von Heizkörpern, Steckdosen, Schränken und Nachtkästchen über Leselampen bis hin zu Rasierpinsel, Apfel und Kartoffelchips. Auch hier sind weder Fernseher noch Radio erwähnt. 

Wie also ist die Erzählung entstanden? Dazu haben die Forschenden mehrere Hinweise: Schon damals fragten sich offenbar Sportler, die im Olympischen Dorf vor dem Fernseher saßen, ob die Terroristen das wohl auch sehen könnten. Außerdem berichteten mehrere ABC-Journalisten, dass die Polizei in den Kontrollraum des Senders gestürmt sei und sie aufgefordert habe, die Kameras abzuschalten. Etwa zeitgleich seien die Polizisten von den Dächern abgezogen worden. Im Film „September 5“ ist das ein dramatischer Moment. 

Die Forschenden zeigen nun anhand mehrerer Polizeiquellen, dass dieser zeitliche Zusammenhang zufällig war. Die Polizei hatte die ABC-Journalisten schon über mehrere Stunden hinweg immer wieder aufgefordert, die Kameras auszuschalten. Live-Publikum bei einem derart schwierigen Einsatz war nicht im polizeilichen Interesse. 

Der Abzug der Polizisten von den Dächern hatte aber andere Gründe: Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher war mit Polizeipräsident Manfred Schreiber und Bayerns Innenminister Bruno Merk zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg, um erneut vor dem Apartment mit den Terroristen zu verhandeln. Der Polizei-Funkverkehr dazu zeigt: Man wollte verhindern, dass die Täter dabei die Polizisten auf den Dächern entdeckten und die Politiker durch eine Eskalation gefährdet würden. 

„Die internationale Historikerkommission nimmt die Aufgabe, jedes Detail des brutalen Terrorangriffs vom September 1972 gründlich zu untersuchen, ernst”, sagt Professor Michael Brenner, Mitglied der Historikerkommission. „Das Ergebnis unserer genauen Überprüfung aller Gegenstände in den betroffenen Räumen zeigt exemplarisch, dass auch manche in der bisherigen Forschung und öffentlichen Meinung tradierte Annahmen revidiert werden müssen.”  

„Ob die Täter Fernseher hatten oder nicht, hatte vermutlich keinen direkten Einfluss auf die Abläufe”, sagt Professor Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. „Dennoch ist es ein Beispiel für ein sehr populäres Narrativ, dass jahrzehntelang schlicht nicht hinterfragt wurde. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, alles, auch vermeintliche Wahrheiten, zu prüfen und wo immer es geht, mit Quellen zu belegen oder zu widerlegen.”  

Die möglichst genaue Rekonstruktion der Ereignisse des 5. September ist einer der Schwerpunkte des Forschungsprojekts. Wirsching: „Die Abläufe am 5. und 6. September sind genau auszuleuchten. Die Fehler von deutschen Sicherheitsbehörden und Politikern und der misslungene Polizeieinsatz von München und Fürstenfeldbruck, der mit dem Tod aller Geiseln und eines deutschen Polizisten endete, müssen minutiös nachvollzogen werden.“ 


Seit September 2023 erforschen eine achtköpfige Historikerkommission und das Institut für Zeitgeschichte den Olympia-Anschlag, seine Vor- und Nachgeschichte. Auftraggeber ist das Bundesministerium des Innern. Die Ergebnisse werden in einen Bericht an das Bundesministerium sowie in einen wissenschaftlichen Sammelband einfließen. Das Projekt läuft noch bis Ende 2026. Mehr zu den Forschungsfragen auf unserer Website.  

Ein schwer bewaffneter Polizist im orangenen Trainingsanzug auf dem Dach im Olympischen Dorf. Die Beamten sollten eine Befreiung der Geiseln vorbereiten.
Polizeiaktion vor laufender Kamera: Ein bewaffneter Polizist auf dem Dach des Olympischen Dorfes. Der Code "Sonne bricht langsam durch" signalisierte den Befehl zum Einnehmen der Sturmpositionen.Bild: SZ-Photo Bild-ID 00111910
  • Pressemitteilung14.05.2025.pdf

Pressekontakt

Tina Angerer Tel.: +49 89 4111 501 14 Mail: angerer@ifz-muenchen.de